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Titel
Marx, feudal. Beiträge zur Gegenwart des Feudalismus in der Geschichtswissenschaft, 1975–2020


Autor(en)
Kuchenbuch, Ludolf
Erschienen
Anzahl Seiten
439 S.
Preis
€ 29,20
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hans-Werner Goetz, Historisches Seminar, Universität Hamburg

Nach einem früheren Vortrag über die „mutation de l’an mil“ fragte mich Rudolf Schieffer in der Diskussion, er sei inhaltlich völlig mit mir einig, aber weshalb ich denn von „Feudalismus“ sprechen müsse. Tatsächlich geht man in West- und Südeuropa, auch in England und sogar in den U.S.A. (mit Ausnahme von Elizabeth Brown) mit dem Begriff sehr viel unbefangener um als in der westdeutschen Geschichtswissenschaft, die sich nicht dem Verdacht marxistischen Einflusses aussetzen wollte. Hier war und ist „Feudalismus“ ein Reizwort (und Ludolf Kuchenbuch liebt und versteht es, das auszureizen). Dabei geht es nicht darum, ob der inhaltlich gefüllte Begriff als Epochenbezeichnung besser oder schlechter ist als der in sich inhaltsleere „Verlegenheitsbegriff“ „Mittelalter“ – seit den Zweifeln an der Bedeutung des Lehnswesens ist das noch obsoleter geworden –; es ist in der sozialgeschichtlichen Diskussion vielmehr unumgänglich, sich mit dem Gebrauch und den Debatten um den „Feudalismus“ auseinanderzusetzen, ob man den Begriff mag oder nicht.

Ludolf Kuchenbuch war einer der ersten, der sich dieser Aufgabe gestellt1 und das, in der ihm eigenen Genauigkeit und begrifflichen Schärfe und in durchaus erkennbarer Entwicklung, danach immer wieder aufgegriffen und sich mit Marx und seinem Verhältnis zu Marx auseinandergesetzt hat. Eine Zusammenstellung seiner diesbezüglichen Schriften – Kuchenbuch selbst nennt sie mittelalterlich „Kompilation“ –, die zum Teil an abgelegeneren Orten erschienen, hier teils aber auch erstmals veröffentlicht sind und Reflexion und Selbstreflexion widerspiegeln, ist daher ein großer Gewinn für die Geschichte (und Theorie) der Geschichtswissenschaft. In seinem warmherzigen Geleitwort nennt Alain Guerreau Ludolf Kuchenbuch einen der bedeutendsten Mediävisten des 20. Jahrhunderts, der gleichwohl in der „Zunft“ oft verkannt werde. Kuchenbuch selbst kommentiert sein Schaffen aus dem heutigen Rückblick heraus nicht nur einleitend, sondern erläutert Entstehung, Hintergrund und Ziel der Beiträge zusätzlich am Beginn jedes Aufsatzes.

Die Anfänge der Beschäftigung mit dem Thema liegen in Kuchenbuchs Berliner Studienzeit – er selbst nennt die damalige Situation in seiner Einleitung eine „linksradikale Garküche innovativer Ideen aus diversen Disziplinen“ (S. 19) und seine Position die eines „eher geduldeten als geförderten Minderheitendenkens“ (S. 22). Die Beiträge sind aber nicht chronologisch nach ihrer Entstehung, sondern thematisch geordnet und beginnen im ersten Teil über „Historiografie“ sehr sinnvoll mit einem 2007/2009 als Studienbrief der FernUniversität Hagen verfassten Überblick über die Feudalismusdiskussionen vor und nach 1989/1990 in Ost- und Westdeutschland und ihrer internationalen „Diskursverdichtung“ in den 1970er-/1980er-Jahren, mit der Abkehr von starren Gesellschaftsformationen, zugleich aber sehr unterschiedlichen Positionen. Dieser Überblick wird ergänzt durch einen neuen Originalbeitrag zur Entwicklung seit der Mitte der 1980er-Jahre mit (abgeklärteren) Diskussionen. In der Debatte über den Beginn des Feudalismus um 1000 ist keine Einigung erzielt. Dem schließt sich ein langer, profunder Aufsatz (von 2012) über das „historische“ Feudalismuskonzept von Marx an, das letztlich nie dessen eigentliches Thema war, sondern stets als Vorstufe des Kapitalismus eine Rolle spielte, mit dem Ergebnis, dass Marx hier weniger eine Entwicklung als eine kontextabhängige Deutung erkennen lässt und den Begriff weder reflektiert (auch nicht von „Mittelalter“ abgrenzt) noch inhaltlich füllt, sondern das als Aufgabe hinterlassen hat. Zwei sehr abgewogene Beiträge über das Verhältnis von Marc Bloch zu Marx (von 1999), das lediglich unterschwellig zu erfassen ist, und zum Weiterwirken von Marx (von 1997), als „Selbstreflexion“ nach rund 15 Jahren in einer Gesellschaft, in der Marx kaum mehr eine Rolle spielt, beenden diesen Teil mit einem Plädoyer, die vorhandenen Einflüsse von Marx ohne ideologische Verbrämung zu hinterfragen.

Der zweite Teil („Theoriearbeit – Konstrukte und Entwürfe“) enthält fünf Beiträge, die konkreten Aspekten gewidmet, hier aber nicht näher auszubreiten sind: Ein Aufsatz über Struktur und Dynamik der feudalen Produktionsweise im vorindustriellen Europa (von 1977) betrachtet scharfsinnig alle strukturellen Aspekte (Produktionsstrukturen, Appropriationsstrukturen, Sozialstrukturen), jeweils auf dem Land und in der Stadt, und betont zu vollem Recht deren Komplexität und Dynamik (was sie einer formalistischen Grundlegung in der Wissenschaft der sozialistischen Länder entzieht), deckt aber auch die Probleme der Herangehensweise auf, „Theorie“ und „Praxis“ miteinander in Einklang zu halten. Dass „Strukturen“ und „Dynamik“ hier auf zwei Abschnitte verteilt sind, verdeckt etwas die in allen Einzelaspekten erkennbare Dynamik der Strukturen (und macht es schwer, die Strukturen als langfristige Phänomene treffend zu erfassen). Dass zwischen den Klassen ein ständiger Konflikt herrschte, scheint mir (in der Praxis) ebenfalls bestreitbar zu sein und unterschätzt das durchaus vorhandene Miteinander. Der Aufsatz über bäuerliche Ökonomie und feudale Produktionsweise (von 1982) endet entsprechend mit sehr konkreten, wichtigen Fragen, die sich mit dem theoretischen Gerüst tatsächlich kaum mehr beantworten ließen. Der folgende Beitrag (von 1978) ist, vor dem Wissen, dass Feudalismus kein universell anwendbares System ist, der Versuch seiner Periodisierung in sechs Phasen vom frühen Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert. Ein abschließender Beitrag (von 2002) plädiert noch einmal für die Anwendung eines offenen Feudalismusbegriffs in der Mediävistik, gerade weil er nicht unmittelbar aus den Quellen erschließbar ist, die ihrerseits aber zu einer „Entmodernisierung“ des Begriffs beitragen.

Ein dritter und letzter Teil („Forschung heute“) umfasst vier (konkrete) Beiträge aus der Praxis, unter anderem über das Epochenprofil und (unter dem Titel „Das Huhn und der Feudalismus“) zur Bedeutung von Hühnern im Mittelalter. „An die Scholle gebunden“ ist ein – in Anlehnung an Alice Rio2, deren Arbeit ich selbst kritischer gegenüberstehe als Kuchenbuch, verfasster – Originalbeitrag über die verschiedenen Arten und Metamorphosen der Knechtschaft (Statuswechsel durch Freilassung, Herrenwechsel durch Transfer und Rentengefüge im Domäneninventar, in dem Kuchenbuch eine ganz andere Art von Servilität erblickt, die er „Servitialität“ nennt: Unfreiheit aus dem servitium; beides ist eben nicht dasselbe). Den Schluss bildet ein Beitrag (von 2018) zur „Anthropologie des Geldes“ über den Denar-Druck im früheren Mittelalter, der die (epochenspezifische) Bandbreite der Geldverwendung aufzeigt (weshalb Kuchenbuch den Begriff „Geld“ vermeidet): Valuieren, Er-Lösen, Geben, Kaufen und Verkaufen, Tauschen, Entgelten. Demgegenüber erscheint die Geldzirkulation nahezu unwichtig.

Es ist sicher müßig darüber zu streiten, ob „Feudalismus“ wirklich ein besserer Begriff ist als „Mittelalter“ (ein Begriff, der sich, trotz aller Versuche, zu Recht auch nicht ausmerzen lässt). Um ihn brauchbar zu machen, muss man die vielen, gängigen Klischees, die sich damit verbinden, schon ordentlich zurechtbiegen. Man kann auch darüber streiten, ob es sich lohnt, zum Mittelalterverständnis der Gegenwart mit Marx die Gedankenwelt eines Autors zugrunde zu legen, der voll und ganz dem 19. Jahrhundert verpflichtet ist. Nicht zu bestreiten ist hingegen der historische Einfluss des Feudalismuskonzepts, zumindest außerhalb der westdeutschen Geschichtswissenschaft. Kuchenbuchs „Lebenswerk“ ist ein Plädoyer dafür, dass eine Auseinandersetzung mit dem Konzept lohnenswert ist, zugleich aber die Aufgabe eines immer wieder neuen Feudalismusverständnisses einschließt. Über die Grundannahme, die Bedeutung der Produktionsverhältnisse für den Geschichtsverlauf, wird man sich nie einigen können. Eine bedeutende Rolle fällt ihnen hier jedoch allemal zu. Theorie und Realität in Einklang zu bringen, ist bisher jedoch noch niemandem gelungen. Daran krankt auch die Feudalismusdebatte: Die differenzierten und dynamischen Verhältnisse der mittelalterlichen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, die neben anderen gerade auch Kuchenbuch selbst aufgearbeitet hat, lassen sich nur schwer mit den Feudalismustheorien in Übereinstimmung halten. Das weiß natürlich auch Kuchenbuch (dessen minutiöse Detailuntersuchungen sich auch ohne einen „feudalen“ Hintergrund lesen und verwerten lassen). „Feudalismus“ bleibt ihm aber für die großen Linien wichtig.

Feudalismusdebatten standen nie im Zentrum der (westlichen) Mediävistik, aber gerade in der offeneren Form der jüngeren Jahrzehnte berührt sich tatsächlich vieles mit virulenten mediävistischen Fragen und Erkenntnissen im sozioökonomischen Bereich. Auch deshalb ist eine Beschäftigung damit nützlich. Man muss daher kein Marxist sein, um Kuchenbuchs wie immer tiefschürfende und begriffsscharfe Reflexionen würdigen zu können (und auch englische, französische, italienische und spanische Marxisten haben sich längst von Marx entfernt). Vielmehr bereichert die Lektüre nicht nur wissensmäßig, sondern regt auch zum Vergleich mit den nicht-marxistischen Diskussionen an und stellt (möglicherweise überrascht) fest, wie sehr sich die Konzeptionen auch überlagern. Die erfrischend persönlich gefärbten Ausführungen mit ihren gewohnt hochreflektierten Begrifflichkeiten und Überlegungen machen das Buch in jedem Fall zu einer ebenso interessanten wie anregenden Lektüre.

Anmerkungen:
1 Ludolf Kuchenbuch / Bernd Michael (Hrsg.), Feudalismus. Materialien zur Theorie und Geschichte, Frankurt am Main 1977.
2 Alice Rio, Slavery After Rome 500-1100, Oxford 2017.